Sonntag, 3. April 2016

Wenn Tog wirklich wäre ...

Alle Jahre wieder trifft man auf der Leipziger Buchmesse auf die unterschiedlichsten Gestalten. Manche kommen in Verkleidung, andere machen hunderte Fotos und wieder andere tun harmlos, verteilen aber Nazi-Zeitungen. Man darf nicht jedem glauben, der einen anlächelt; ganz genauso ist es mit der

Religion

Untersuchungsgegenstand

Als ich das Messegelände gerade verlassen wollte, drückte mir ein überaus motivierter junger Mann ein Büchlein in die Hand, das auf den Titel "Wenn Gott wirklich wäre ..." hört. Geschrieben wurde es von Wolfgang Bühne und herausgegeben wurde es vom Verein "Christliche Literatur-Verbreitung" in nunmehr 4. Auflage. Offenbar habe ich durch dieses selbstlose Geschenk beinahe zwei Euro gespart, na hoi! Da kann ich mir natürlich auch die Mühe machen, etwas über dieses Geschenk zu schreiben.

Positives

Gleich vorneweg: Ich habe schon Schlimmeres gelesen, sowohl was den Inhalt als auch die Ausdrucksweise anbelangt. Genau genommen wusste der Autor mit beinahe tadelloser Rechtschreibung und mit vielen Beispielen aus dem täglichen Leben und von Berühmtheiten zu begeistern und mitzureißen. Die geäußerten Ansichten zur Bedeutung von Sünde, Liebe und dem Kreuz waren zudem in sich konsistent und lieferten mir eine neue Sicht auf diese Begriffe. Jemandem, der sich für ein paar launige Worte zur Religion interessiert, kann ich diese Lektüre durchaus empfehlen.

Rechtfertigung des folgenden Verrisses

Allerdings haben wir es hier nicht mit einer harmlosen Gute-Nacht-Lektüre zu tun, sondern mit dem Versuch, eine Weltanschauung zu rechtfertigen, die außerhalb des persönlichen Denkens keine Rechtfertigung besitzt. Irgendwo zwischen all den Aussagen, denen man guten Herzens zustimmen kann, muss es also eine handvoll Behauptungen geben, denen man – wo man doch gerade so schön dabei ist – leichtfertig zustimmt, die aber bei näherer Betrachtung in sich zusammenbrechen und dabei das gesamte, so schön konstruierte Gebäude mit sich reißen.



Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich bin keineswegs per se ein Gegner jedweder religiösen Überzeugung. Der Glaube an Überirdisches kann nicht nur schöne Stunden mit Romanen bescheren, sondern auch das eigene Leben gemütlicher machen. Wie in jeder anderen Gemeinschaft findet man Gleichgesinnte und Freunde, zudem kann das Vertrauen auf eine ewige Konstante Ruhe und Sicherheit in die wirre Welt bringen und einem die Angst nehmen.

Wenn ich dazu in der Lage wäre, würde ich persönlich auch lieber an ein ewiges Leben im Himmel glauben als an ein eher glanzloses Vermodern. Auch andere Religionen (auf die vieles, was hier im Kontext des Christentums geschrieben wird, eins zu eins übertragbar ist) haben durchaus ihre Vorzüge. Aber ich bin zu solch einer Selbsttäuschung nicht fähig (und wurde durch das vorliegende Buch in meinem Standpunkt sogar noch bestätigt). Ich habe die gesamte Problematik gründlich untersucht, und obgleich ich natürlich die Existenz eines überirdischen Wesens nicht ausschließen kann, so denke ich doch, dass ein solches, ob existent oder nicht, für unser Sein mit übergroßer Wahrscheinlichkeit keine Rolle spielt (wohl aber der Glaube an solch ein Wesen).

Wenn nun jemand zu einer anderen Entscheidung gelangt, so möchte und kann ich ihm dies nicht wegnehmen. Es ist schön, wenn man von etwas überzeugt ist. Es kann aber nicht davon ablenken, dass jedermann (und das gilt erst recht, wenn man gläubig ist) für seine Taten verantwortlich ist. Wir haben ein Gehirn; wir leben in einer Gesellschaft; wir sind nicht Tog – wegen all dieser Gründe müssen wir darüber nachdenken, was wir tun, und uns ab und zu Zeit nehmen, um unsere Weltsicht und die anderer kritisch zu betrachten und, falls nötig, vernünftig abzuändern.

Genau dies werde ich jetzt tun. Ich ignoriere dabei größtenteils diejenigen Textstellen, die in sich und vor dem Hintergrund des zugrundeliegenden Gedankengebäudes stimmig sind, und widme mich denjenigen, die versuchen, die Erzählung in unserer Welt zu verankern. Wenn jemand den Anspruch hat, die Welt zu erklären und unser Leben zu bestimmen, zählt schließlich nicht die Qualität der Geschichte, sondern deren Kompatibilität mit unseren (manchmal doch recht öden und nicht ganz so bunten) Erfahrungen.

Die Leugnung der Vielfalt

Gleich im Vorwort findet sich neben einem freundlichen Gesprächsangebot die folgende Stelle, die man ähnlich auch in Heften findet, die bibeltreue Christen vor dem Hauptbahnhof verteilen:
"Vielleicht standen Sie auch schon einmal nachts auf dem Balkon und waren überwältigt von der Sternenpracht über Ihnen. Sie haben sich die Frage gestellt, wo die Sterne herkommen. Gibt es einen Schöpfer? Oder ist doch alles Zufall?" (Seite ii, Hervorhebung durch mich.)
Der erste Schritt ist gemacht: es wurden Fragen gestellt, und das zu einem großen Thema, das viele, wenn nicht gar die meisten Menschen schon einmal beschäftigt hat. Gut! Das Problem ist nur, dass man sich keine Mühe gibt, der Antwort dieser Frage nachzugehen und den Leser mit seinen Gedanken alleine lässt – wohlwissend, dass diese Zuspitzung die Religion in ein besseres Licht rückt, als zu vertreten ist.

Es wird suggeriert, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt: Entweder ein Schöpfer hat mit nahezu unbegrenzter Macht alles erschaffen – oder die gesamte Pracht der Welt ist irgendwie zufällig in unser Leben gepurzelt. Zwischen diesen beiden Extremen muss man sich nun entscheiden, so scheint es, wo es doch viel ehrlicher wäre, noch eine dritte Frage anzuhängen: Oder war es vielleicht ganz anders?

Möglicherweise – und auch das wird hier unterschlagen – wird es uns auch nie gelingen, eine Antwort zu finden (und das ist sogar sehr wahrscheinlich, wenn man bedenkt, dass wir nur kleine Menschlein sind). Die eigentliche Frage ist also nicht, wie es tatsächlich war, sondern welche Antwort plausibel erscheint. Die Entscheidung für oder gegen eine Alternative ist weniger eine Frage der Wahrheit als eine Frage der Wahrscheinlichkeit. Allein schon diese Einsicht würde viel Spannung aus dieser Angelegenheit nehmen.
Um die Plausibilität zu überprüfen, sollte man zudem alle Karten auf den Tisch legen. Zu jeder Behauptung gibt es Argumente, die sie unterstützen, und solche, die ihr entgegenstehen. Hält man daher an einer Sache um ihrer selbst Willen fest und stellt nur ihre positiven Seiten dar, während man sich müht, von anderen Meinungen nur die schlechten Seiten zu zeigen, handelt man wenig glaubwürdig.
  • Ein Schöpfer, so er denn existiert, verdeckt die eigentliche Frage: Wieso gibt es Sterne? Wieso leuchten sie und wie lange? Sind sie groß, klein, nah oder fern, und kann man sie essen? "Tog hat sie erschaffen" liefert keine Antworten. Mehr noch, er schiebt auch die Frage nach der Herkunft der Sterne nur hinaus, denn wenn Tog existiert – wer hat dann Tog erschaffen? Man sollte nicht denken, dass mit einem Glauben an Tog plötzlich alles geklärt ist. Im Gegenteil.
  • Und reiner, ungebändigter Zufall? Nur, weil kein bewusstes Wesen die Welt steuert, heißt das nicht, dass alles zufällig an seinen heutigen Platz gefallen ist. Planeten können sich formen, weil die Gravitation kleinste Teilchen zusammenzieht und über Jahrmillionen bündelt; Bäume wachsen gen Sonne, weil alle anderen sterben, bevor sie sich fortpflanzen können; Menschenmassen gliedern sich auf Gehwegen in gegenläufige Menschenketten, weil sich ansonsten kaum etwas bewegen würde. Ordnung mag einen zufälligen Anfang haben, doch sie besteht nur fort, wenn sie sich selbst verstärkt – und das ist die dritte Möglichkeit neben Tog und Zufall.
Schließlich sollten die Kategorien nicht vermischt werden (auch wenn das in dem Zitat nur leise anklingt; man kennt die gängigen Argumentationsketten). Es mag sein, dass Tog die Sterne und uns erschaffen hat, doch selbst dann: Was gibt ihm das Recht, über unser Leben zu bestimmen? "Er ist Tog", möchte man antworten, doch kann das überzeugen? Woher stammt seine Meinung? Tritt er in einen Dialog? Ist es verantwortungsbewusstes Handeln, wenn wir ihn als höchste moralische Instanz einsetzen? Und was sagt eigentlich Gottes Schöpfer dazu?

Physikalische Theorien erheben dagegen nicht den Anspruch, neben dem Ursprung der Welt auch noch den Ursprung der Moral zu erklären: diesen erhebt nur das menschliche Denken im Allgemeinen. Dies ist der Anspruch, den wir haben, und weniger unglaubwürdig als das Beharren auf religiösen Texten, denn diese Texte gehören ebenfalls zum reichen Fundus, aus dem sich die menschliche Erkenntnis ableitet. Nach langen Diskussionen und vernünftigen Abwägung gelangt damit der Mensch zwingend zu besseren Ergebnissen als der Priester.
Fazit: Versuchen wir es das nächste Mal doch einfach damit: Die Sterne sind überwältigend! Was gibt es über sie zu wissen?

Obacht, Konjunktiv!

Das nächste Zitat zeigt auf engstem Raum, wie im besten Fall unbedacht, im schlechtesten mit Vorsatz versucht wird, Nägel mit Köpfen zu machen, ohne den Schaft zu beachten:
"Ich möchte gerne mit Ihnen [...] über die Möglichkeit der Existenz Gottes [nachdenken]. Und auch der Frage nachgehen, ob die Tatsache der Existenz Gottes nun Bestürzung auslösen muss [...]." (Seite 9, Hervorhebung durch mich.)
Man muss aufpassen, wenn man zuerst eingelullt wird mit Konjunktiven und einem Angebot, ganz unverbindlich einmal die Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. Ganz schnell wird aus einem Könnte ein Ist und man fragt sich, wann und wo man denn zu diesem Konsens gekommen ist. Das mag jetzt noch Wortklauberei klingen, doch ist es eine perfide Masche, ungezwungen eine Möglichkeit als gegebene Tatsache hinzunehmen, ohne diesen Entschluss an prominenter, bei Bedarf schnell auffindbarer Stelle festzuhalten.

Ein selbstbewusstes "Tog hat gesagt ..." nistet sich stärker in den eigenen Gedanken ein als "Wenn wir nun einmal annehmen wollen, dass Tog existiert und dass die alten Schriften tatsächlich seine unverfälschten Worte mitteilen, so müssten wir uns der folgenden Idee anschließen: ..." Man stelle sich doch nur einmal einen Togesdienst mit diesem ehrlichen Anfang vor! Die Bänke wären leer und man könnte andere Lebensentwürfe kennenlernen.

Der Sinn des Lebens

Weiter geht es mit einer kruden Behauptung:
"Die modernen Philosophen und Dichter haben keine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens gefunden." (Seite 15, Hervorhebung durch mich.)
Eine große Frage, nicht wahr? Der Sinn des Lebens! Wahrscheinlich noch größer als die nach der Herkunft der Sterne, und natürlich schwingt mit, dass die Religion diese Antwort spielend gefunden hat: Liebe Tog und deinen nächsten. Doch ist dies ein Eigentor: wir haben eben schon festgestellt, dass ein Philosoph auch auf theologische Betrachtungen zugreifen kann; wenn also die Philosophie angeblich keine Antwort gefunden hat, so muss sie bei jeder anderen vermeintlichen Antwort einen Haken entdeckt haben. Die Religion kann also nur dann den Sinn des Lebens entdeckt haben, wenn sie sich berechtigten Zweifeln verschließt.

Aber auch, wenn man den Philosophen etwas mehr zutraut, sollte man sich hier die Frage stellen, ob die Antwort der Religion plausibel und haltbar ist. Wenn es wirklich einen Tog wie in der Bibel beschrieben gibt, so ist es sicherlich ratsam, diesen zu lieben. Doch wenn Tog lediglich die Sterne erschaffen hat und uns ein Gehirn gab, um selbst einen Sinn im Leben zu entdecken? Und was ist erst, wenn es ihn gar nicht gibt? Dann bleibt nur noch, seinen nächsten zu lieben, was zwar eine recht gute Antwort ist, aber keine, die ein Dichter nicht auch äußern kann.

Eine zufriedenstellende Antwort gibt sich nicht mit solchen Unwägbarkeiten ab. Sie möchte der Frage auf den Grund gehen und sie allgemeingültig beantworten. Dies wird kaum mit fünf Worten gelingen und – zumindest bei solch offenen Fragen – nicht verabsolutierend. Es ist besser, jemanden zu leiten, die Antwort für sich selbst zu finden, indem man ihn Fragen mit auf den Weg gibt und keine vorgefertigten Antworten.
  • Was ist das denn, ein Sinn des Lebens? Wenn du es nicht genau weißt: was ist denn kein Sinn des Lebens? Gibt es Beispiele, von denen du genau sagen kannst, wieso sie kein Sinn des Lebens sein können? Gibt es Eigenschaften, die ein Sinn des Lebens unbedingt haben muss? Ist es für einen Sinn des Lebens, der all diese Eigenschaften miteinander vereint, überhaupt möglich zu existieren oder ist er eine reine Wunschvorstellung?
  • Möchtest du den Sinn des Lebens für dich als Einzelperson finden, für deine Familie, für die gesamte menschliche Gesellschaft, oder gar für das gesamte Universum?
  • Wie steht es denn mit der folgenden Möglichkeit, den Sinn des Lebens darin zu sehen, durch bewusstes Denken der Erhaltung von Struktur zu dienen, indem du jeden Menschen, jedes Wesen, jedes Objekt im Sinne dieses Ziels so behandelst, als wärst du auch in deren Position?
Fazit: Versuchen wir es das nächste Mal doch einfach damit: Die modernen Philosophen und Dichter haben viele Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens gefunden. Welche findest du plausibel?

Eine Anleitung zum Leben

Natürlich gibt die Religion nicht nur einen Sinn des Lebens an, sondern auch viele kluge Anweisungen, wie man im Kleinen zu leben hat. Zum Glück gibt es den Schöpfer!
"Um zu wissen, wie die komplizierte »Maschine« Mensch funktioniert, muss man den fragen, der sie [sich] ausgedacht hat[,] und seine Anweisungen befolgen.
Zugegeben, man braucht Zeit und auch einen klaren Kopf, um die »Gebrauchsanweisung Gottes« für den Menschen, die Bibel, zu verstehen." (Seite 27, Hervorhebung durch mich.)
Ich muss nun sicherlich nicht mehr darauf hinweisen, wie selbstverständlich hier davon ausgegangen wird, dass Tog den Menschen erschaffen hat, und dies sogar ganz praktisch mit einer Gebrauchsanweisung, die man, wenn man sich etwas anstrengt, auch verstehen kann – lassen wir das also beiseite.

Viel schlimmer ist, dass auch hier (wie übrigens im gesamten Buch) dem Menschen jedwede Verantwortung abgenommen wird. Tog habe die genauen Anweisungen für den Menschen im Kopf, und um als Mensch funktionieren zu können, muss man zwingend auf diese Worte hören und einfach nichts anderes machen. Nur nicht nachdenken, dann wird alles gut, und wenn etwas ungut erscheint, dann haben wir zu viel nachgedacht. Tog hat einen Plan. Wenn man es nur oft genug liest und hört, so glaubt man letzten Endes womöglich wirklich noch daran, dass es unnötig ist, mehr über die Welt zu wissen, als was in der Bibel geschrieben steht.

Zwischenfazit: Versuchen wir es das nächste Mal doch einfach damit: Um zu wissen, wie die komplizierte Maschine Mensch funktioniert, braucht man Zeit und einen klaren Kopf. Aber keine Angst: Noch ist kein Meister vom Himmel gefallen, gut Ding will Weile haben und einfache Antworten auf komplizierte Fragen gibt es nur äußerst selten.

Gleich im Anschluss begegnet uns dieses Goldstück:
"[Die Bibel] ist der einzig vernünftige Weg, etwas Zuverlässiges über das Woher, Wohin und Wozu unseres Lebens zu erfahren [...]." (Seite 28, Hervorhebung durch mich.)
Auch hier ist es im Weltbild der Togesgläubigen völlig angemessen, sich so zu äußern. Die einzige andere Möglichkeit als durch seine Worte, um mit Gott in Kontakt zu treten, ist das innige Gebet – doch beide Methoden haben ein Problem, das sofort offenkundig wird, wenn man sich nur eine Sekunde mit der Frage beschäftigt, ob Gott wirklich daran gelegen ist, uns auf diese Weise zu führen – und ob das überhaupt möglich ist.

Die Bibel ist eine Sammlung unzähliger Geschichten aus verschiedenen Jahrhunderten, mehrfach übersetzt und zusammengeflickt, in sich widersprüchlich, vage und oft nach allen heutigen Maßstäben grausam. Es bleibt dem Leser nicht viel anderes übrig, als die Texte frei zu interpretieren und nach bestem Wissen und Gewissen auszulegen. (Und auch, wer sich wörtlich an den Text hält, folgt den Interpretationen der Verfasser und Übersetzer.) Da jeder die Texte etwas oder gar völlig anders auslegt, kann dies nicht alles im Sinn Toges sein – es sei denn, es ist ihm völlig egal, was man aus der Bibel für Lehren zieht. Es ist der Mensch selbst, der sich den Text vor dem Hintergrund seines eigenen Wohers, Wohins und Wozus zurechtlegt.

Selbiges gilt für andere Religionen mit Texten, die nicht juristisch wasserfest sind, und noch stärker im persönlichen Zwiegespräch mit Tog: Wenn es nicht Tog ist, der uns dort gut zuredet, dann sind wir es selbst, die wir uns im schlechtesten Fall eine Gräueltat zurechtbiegen und die wir im besten Fall eine geniale Idee haben, um ein Problem zu lösen. Und selbst, wenn man auf Gott vertraut, kann man ihm zuarbeiten und es das nächste Mal, so das Fazit, mit Kant versuchen: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen."

Moral und die Sünde

Einer meiner Deutschlehrer hat einmal gesagt, man solle Kinder nicht als "böse" bezeichnen, das würde sie verstören und es sei auch nicht angemessen. Dahinter versteckte sich eine Weisheit, die dem Autor wohl entgangen ist:
"Weder meine Frau noch ich haben [unseren Kindern] erklärt, wie man lügt, was Ungehorsam oder Neid ist, und doch kam der schockierende Augenblick, wo die so unschuldig wirkenden Knirpse zum ersten Mal gelogen haben und Neid, Eifersucht und Egoismus sichtbar wurden." (Seite 36, Hervorhebung durch mich.)
Ja, wer glaubt es denn! Sollte womöglich jeder Mensch von Anfang nicht nur der Sünde ausgeliefert, sondern selbst ein Sünder sein? Die Kinder haben nie erfahren, wie man sich schlecht verhält, und haben es dann einfach doch getan, und eine andere Erklärung kann es nicht geb...
  • Vielleicht deshalb, weil ihnen niemand gesagt hat, dass ihre Eltern das nicht mögen?
  • Weil ihr Sozialverhalten noch nicht so stark geprägt war, dass sie die langfristigen Folgen ihres Handelns absehen konnten?
  • Weil sie sich vielleicht ungerecht behandelt fühlten oder dachten, im Recht zu sein?
Was es auch war: letztlich haben sie nur das komplette Verhaltensspektrum des Menschen ausgekostet und dabei selbstständig gelernt, wie sie damit ihre Umwelt beeinflussen. Ein Kind, das nur gelernt hat, mit dem rechten Arm zu winken, wird irgendwann auch den linken benutzen; es wird statt mit dem Löffel auch mit der Gabel essen und neue Wörter erfinden. Alle Eltern sind froh darüber und auch stolz, dass ihr Kind dazu lernt und selbstständig die Welt versteht, und wenn es mal Fehler macht, hilft man ihm auf und ist ihm ohne Groll ein Vorbild.

Lernen und Ausprobieren gehört zum Leben dazu. Von den komplexen Regeln der menschlichen Gesellschaft aber, die selbst Erwachsene nur unzureichend durchschauen, erwartet man, dass die Kinder sie sofort verstehen? Wer lügt, der hat in erster Linie eine erstaunliche gedankliche Leistung vollbracht. Nur die von außen auferlegte Moral verurteilt ihn als böse und meint, er sollte sich schämen. Eine gesunde Ethik ist ohne Zweifel von Vorteil für die Gesellschaft, doch ginge es nach der Religion, so würde jeder, der von teils willkürlichen Regeln abweicht, als räudiger Sünder in der Hölle schmoren.

An anderer Stelle heißt es dazu mit einer Logik, die ganz auf einen besitzergreifenden Tog zugeschnitten ist:
"Tatsache ist, dass wir bisher nicht im Traum daran gedacht haben, das zu tun, wozu wir geschaffen wurden: Gott zu lieben, [i]hm dankbar zu sein und abhängig von [i]hm zu leben. [...] Ich gehöre mir und deshalb kann ich mit meinem Bauch und schließlich auch mit meinem Leben machen, was mir gefällt – genau das ist Sünde." (Seite 38. f., Hervorhebung durch mich.)
Nein, nein, nein! Besser so: Möglicherweise gibt es einen Tog, möglicherweise auch nicht. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass diejenigen, die ihr Leben nach bestem Wissen selbst bestimmen, von einer höheren Macht benachteiligt werden, und so bietet es sich an, das eigene Leben im Einklang mit anderen selbst zu bestimmen – genau das ist klug.

Die Gnade Toges

Es folgen interessante Ausführungen zum Tode Jesu, Stellvertretung und Sünde. Aber ganz ehrlich: Tog erschafft Menschen, die von Geburt an Sünder sind, liebt sie aber so sehr, dass sein Sohn stellvertretend für alle leiden muss, um ihnen die Sünde zu nehmen – danach lebt der Sohn dann wieder froh und munter im Himmel (bzw. laut den Simpsons psychisch schwer geschädigt) (wobei seine letzten Worte recht gelassen klingen) und die Menschen sind letztlich genau so sündig wie vorher und sollen sich dazu noch schlecht fühlen, weil sie den Sohn genau nach Plan Toges getötet haben? ... Ich weiß ja nicht. Aber ein und derselbe Sachverhalt kann bekanntlich stets auf zwei Arten interpretiert werden:
"Wir alle sind bewusst oder unbewusst mitschuldig an dem Tod seines Sohnes Jesus Christus. Er wurde auf Golgatha unserer Sünden wegen hingerichtet. Und nun möchte Gott uns adoptieren, uns in seine Familie aufnehmen und zu seinen Erben machen. Das ist die unbegreifliche Gnade Gottes!" (Seite 76, Hervorhebung durch mich.)
Ganz gleich, ob wir etwas dafür können oder nicht – wir sollen schuldig sein und uns zugleich dafür bedanken, dass unser Gläubiger Milde walten lässt. Daran zeigt sich das paradoxe Wesen der Religion in Reinform. Mit derselben Berechtigung könnte ich dir, liebem Leser, anlasten, dass meine Tasche von einem anderen gestohlen wurde, und dann über meine Mittelsmänner deine Liebe einfordern, weil ich noch immer an dieser falschen Anschuldigung festhänge, es dir aber nachsehe, weil ich so großherzig bin.

Und nein, dieser Vergleich hinkt nicht daran, dass ich dir, liebem Leser, nicht so wie Gott die ewige Glückseligkeit nach dem Tod verheiße: In meinem ganz persönlichen Gummibärchenland darfst du nämlich auch, solltest du den Weg in diese Fantasiewelt finden, nach Herzenslust schlemmen. (Merke: Nahrung ist besser als Glückseligkeit, denn Nahrung macht nicht nur glücklich, sondern auch satt.)

Fazit: Wir tragen nicht die Schuld unserer Eltern. Schulden können wir nur selbst aufnehmen.

Glauben und Vernunft

Im Buch folgen nun ein paar Seiten, die uns weismachen sollen, dass wahrer Glaube die Vernunft nicht ausschließt, dass vielmehr sogar die Vernunft Grundlage des wahren Glaubens ist. Und da wird es interessant, denn der Autor versteht so wie ich unter "Vernunft" das Vermögen, unter verschiedenen Alternativen diejenige zu wählen, die nach bestem Wissen erfolgversprechend ist. Nur wer nach umfassender Prüfung zu Tog hält, glaubt wirklich. Ich denke, in diesem Sinne kann ich der Aussage zustimmen.

Diese Prüfung nun, wie soll die stattfinden? Man müsste sich mit einer genügend großen Anzahl von Lebensmodellen genügend genau beschäftigen. Man müsste ihre Grundlagen verstehen, Erfahrungen anderer einbeziehen und sich überlegen, wie die eigene Zukunft in solch einem Leben abläuft. Die Erkenntnis, die einem dabei kommen muss, ist neben all den Fantastereien aus dem Glaubensbekenntnis die folgende:
"Gott fordert nicht mehr und nicht weniger von uns, als das demütige Anerkennen und Offenlegen unserer Schuld und die Erkenntnis unserer Unfähigkeit, mit unserem Leben alleine klarzukommen." (Seite 107, Hervorhebung durch mich.)
Wir müssten uns also sicher sein, dass auch wir schuldig sind (was wir schon ausgeschlossen haben), und wir müssten nach gründlicher Prüfung einsehen, dass wir mit unserem Leben nicht klar kommen und uns allein durch Tog führen lassen. Das ist wahrer Glauben. Und wahrlich: Wenn jemand nach all diesen Mühen der Meinung ist, für sich selbst nicht besser sorgen zu können, als durch ein Leben mit Einklang in Tog, so sehe ich mich nicht in der Lage, ihm einen besseren Vorschlag zu unterbreiten, und ich hoffe, dass ihm sein Glaube Sicherheit bringt.

Ich geh allerdings davon aus, dass eine große Mehrheit derer, die meinen, gläubig zu sein, weit von diesem vernunftbasierten Glauben entfernt sind. (Ganz einfach deshalb, weil es mittlerweile sehr viele Beispiele derer gibt, die ohne Glauben bestens fähig zu leben sind.) Sie könnten es besser wissen (oder zumindest könnten sie wissen, es nicht besser wissen zu können), aber sie sind zu träge dazu, etwas zu ändern, oder werden von der Familie zu ihrem Glauben gedrängt. Man frage einmal einen Priester unter vier Augen, ob er wirklich glaubt!

Vielfach wird es auch so sein, dass sie durch eigene Überlegungen schon so weit von den ursprünglichen Glaubenssätzen abgekommen sind, dass es schlicht gelogen ist, sich zu einer Konfession zu bekennen. Sie sind weder katholisch noch hinduistisch noch atheistisch. Die allermeisten, die ehrlich zu sich selbst sind, müssten bei Umfragen zu ihrer Religiosität ein Kreuzchen bei "sonstiges" machen. Der Aufschrei in allen Lagern wäre lustig anzuhören.

Fazit: Tog möchte die behüten, die es ohne ihn nicht schaffen. Aber du schaffst das!

Der persönliche Standpunkt

Ich habe anfangs erwähnt, dass ich ungläubig bin, und ich sehe meine Meinung durch diese Definition des Glaubens bestätigt. Wenn es wahrer Glaube ist, sich vernünftigerweise für Tog zu entscheiden, so müsste er mir, damit das möglich ist, auch genug Zeichen geben, damit ich mit meiner Vernunft zu ihm finden kann. (Wenn er existiert, habe ich ihm schon mitgeteilt, wie das möglich ist, aber das bleibt eine Privatsache.) Dies ist bislang nicht passiert, also schließe ich Tog aus meinen Überlegungen aus. Ich bin Struktur und handle im Sinne dieser.

Irgendwelche letzten Worte? Na gut. Wir wollen diese Diskussion mit einem Schlusswort beenden, das den Inhalt der hier präsentierten gegensätzlichen Positionen auf den Punkt bringt:
"[All das] scheint wirklich über unseren Horizont zu gehen. Und doch ist es so, auch wenn ich es mit meinem kleinen Verstand nicht fassen kann." (Seite 116, Hervorhebung durch mich)
Alles, was ich sagen wollte, habe ich schon gesagt, und daher denke ich, dass du, lieber Leser, weißt, was das nächste Mal besser wäre: Diese Geschichte klingt interessant, dieser Blogartikel auch. Aber wonach soll ich mich nun richten? Ich werde über die Alternativen nachdenken.

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Ich habe soeben das Buch im Online-Shop kommentiert. Falls der Kommentar dort nicht auftaucht oder gelöscht wird, hinterlasse ich hier einen ähnlichen (ich habe ihn leider nicht kopiert):

Ich als Agnostiker habe durch dieses Buch viel gelernt, das mir vorher noch nicht bekannt war. 

Allerdings hat es mich darin bestärkt, nicht an Tog zu glauben. (Jeder, der einen Text kritisch betrachtet, wird durch dieses Buch nicht überzeugt werden können.) Die verwendete Definition des Glaubens hat mir gezeigt, dass der Mensch auch in den Augen Toges lieber auf seinen Verstand vertrauen sollte, als bei einer paternalen Figur Schutz zu suchen. Vielen Dank dafür!

Ich habe dieses Buch auf der LBM geschenkt bekommen. Es freut mich, dass Sie durch Ihren selbstlosen Einsatz daran mitwirken, dass der Mensch erwachsen wird. Vielen Dank!

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