Samstag, 9. April 2016

Ein spezielles Integral

Man kann sich als Nicht-Mathematiker gar nicht vorstellen, wie schön es ist, wenn sich nach einer langen Rechnung alle Terme gegenseitig kürzen und das Ergebnis einfach nur $0$ oder $1$ ist. Das mag auch daran liegen, dass man in der Schule meist nur Brüche kürzt:
\[\frac 54 \cdot \frac 85 = \frac{5\cdot 8}{4\cdot 5} = \frac 84 = 2.\] Das kann nicht einmal ich imposant finden. Ein besseres Beispiel ist das folgende

Spezielle Integral

Wir möchten etwas Zeit damit verbringen, das Integral
\[\int_0^\infty \frac{\ln(x)}{1+x^2}dx\]zu berechnen. ("Warum?", fragt ihr? Als wäre das eine angebrachte Frage! Einfach so :)

1. Wohldefiniertheit

Bevor wir loslegen, überlegen wir uns, ob dieser Integralausdruck überhaupt sinnvoll ist. Es ist offensichtlich, dass wir über die Funktion
\[f\colon x\mapsto \frac{\ln(x)}{1+x^2}\]integrieren wollen, und zwar über dem Integrationsintervall $[0,\infty)$.

Am ersten Faktum irritiert uns nicht der Logarithmus $ln(x)$ – den müssen wir hinnehmen – sondern der Umstand, dass dieser im Nullpunkt gar nicht definiert ist. Am zweiten Faktum stoßen wir uns ein wenig an der Unendlichkeit, ohne genau zu wissen, wieso. Vielleicht ist es komisch, unendlich lange Funktionsgraphen zu betrachten, oder wir fragen uns, wie man denn $\infty$ in die Stammfunktion (falls wir denn eine finden) einsetzen sollen.

Die mathematisch korrekte Antwort für beide Fragen finden wir (im Rahmen der hier genutzten riemannschen Integrationstheorie) durch eine Einführung von Grenzwerten: Da wir wissen (sollten), wie Integrale über endlichen Intervallen $[a,b]$ mit $0 < a < b < \infty$ definiert sind, können wir dies nutzen, indem wir beschließen:

Das obige Integral ist ein uneigentliches Integral, das definiert ist über die Summe von Grenzwerten
\[\int_0^\infty \frac{\ln(x)}{1+x^2}dx = \lim_{a\to 0+} \int_a^1 \frac{\ln(x)}{1+x^2}dx + \lim_{b\to\infty}\int_1^b \frac{\ln(x)}{1+x^2}dx,\]und zwar genau dann, wenn beide Grenzwerte existieren (also reelle Zahlen bezeichnen).

Diese Definition ist plausibel, wenn man bedenkt, dass es in der Mathematik üblich ist, unbekannte Größen durch bekannte zu approximieren: In diesem Fall das Integral mit komischen Grenzen durch Integrale mit normalen. Auch ist diese Definition konsistent mit dem Fall, dass eine weitere Funktion $g$ eigentlich ganz normal (zumindest im Nullpunkt) integrierbar wäre. Es gilt nämlich für solche $g$
\[\int_0^1 g(x) dx = \lim_{a\to 0+}\int_a^1 g(x)dx,\]wobei das linke Integral das normale und nicht das eben definierte uneigentliche ist.

Einzig verwunderlich dürfte die $1$ sein, die unmotiviert als obere bzw. untere Integrationsgrenze auftaucht. Man überlegt sich hier aber auch schnell, dass wir an ihrer statt jede andere Zahl $c$ mit $0<c<\infty$ hätten nehmen können: egal wie, der Wert des so definierten Integrals bleibt gleich.

2. Existenz

Als nächstes stellen wir uns die Frage, ob das Integral nach dieser Definition wirklich existiert. Wir möchten es nicht exakt berechnen, sondern nur wissen, ob sich die Mühe lohnt, nach dem genauen Wert zu suchen. Dies gelingt hier recht einfach durch eine Abschätzung.

Wir beginnen mit dem Integralteil nahe $0$, indem wir ein beliebiges $x \in (0,1]$ betrachten. Die Division durch $1+x^2$ tut in diesem Bereich nicht viel, was die Existenz des Integrals beeinflusst (wobei sie natürlich für den exakten Wert von Bedeutung ist), also werden wir sie schnell los:
\[\left|\frac{\ln(x)}{1+x^2}\right| \leq \frac{|\ln(x)|}{1} = -\ln(x).\]Die letzte Funktion können wir über jedem Intervall $[a,1]$ mit $a>0$ völlig normal integrieren, denn wir kennen eine Stammfunktion:
\[\int_a^1 -\ln(x)dx = \left[ x - x\cdot \ln(x)\right]_a^1 = 1 - \ln(1) - a + a\cdot \ln(a).\]
Der Logarithmus von $1$ ist natürlich $0$, und wenn $a$ gegen $0$ konvergiert, verschwindet auch der Term $-a$. Es bleibt nur die Frage, wie sich $a\cdot\ln(a)$ verhält. Dafür haben wir allerdings den famosen Satz von l'Hospital, der uns folgendes Ergebnis liefert:
\[\lim_{a\to 0+} a\cdot \ln(a) = \lim_{a\to 0+} \frac{\ln(a)}{a^{-1}} = \lim_{a\to 0+} \frac{a^{-1}}{-a^{-2}} = \lim_{a\to 0+} - a^{1} = 0.\]
Insgesamt kommen wir damit zu der Abschätzung
\[\lim_{a\to 0+} \int_a^1 -\ln(x)dx \leq \lim_{a\to 0+} 1 - a + a\cdot\ln(a) = 1.\]
Da $-ln$ eine integrierbare obere Schranke für $|f|$ ist, können wir daraus schlussfolgern, dass
\[\int_0^1 \frac{\ln(x)}{1+x^2}dx = \lim_{a\to 0+}\int_a^1 \frac{\ln(x)}{1+x^2}dx\] existiert und dem Betrage nach ebenfalls durch $1$ beschränkt ist.

3. Zwischenbemerkungen

Durch eine partielle Integration können wir unser Integral, das über eine nicht stetig fortsetzbare Funktion gebildet wird, auf stetig fortsetzbare Funktionen zurückführen:
\[\int_a^1 \frac{\ln(x)}{1+x^2}dx = \left[\ln(x)\cdot\arctan(x)\right]_a^1 - \int_a^1 \frac{\arctan(x)}{x}dx.\]Das ist irgendwie nett und wer mag, kann gerne mit dem Satz von l'Hospital nachprüfen, dass die nun auftauchenden Funktionen für $x$ gen $0$ einen reellen Grenzwert besitzen.

Für das Integral nahe $\infty$ können wir nicht auf dieselbe Weise vorgehen, denn in diesem Bereich ist der Divisor $1+x^2$ wichtig, um das Wachstum von $\ln(x)$ zu bändigen. Wir benötigen aber auch keine weitere Abschätzung, wie wir gleich erfreut sehen werden.

4. Berechnung ohne Berechnung

Wir werden eine gewisse Symmetrie ausnutzen, die bislang noch nicht sichtbar ist, um die Existenz des Integrals sicherzustellen. Die Idee dahinter ist, die Unendlichkeit in den Integralgrenzen durch die Transformation $x\mapsto t = 1/x$ auf einen endlichen Wert zurückzuführen.

Für jedes $b>1$ gilt:
\[\lim_{b\to\infty} \int_1^b \frac{\ln(x)}{1+x^2}dx = \lim_{b\to\infty}\int_1^{1/b} \frac{\ln(t^{-1})}{1+t^{-2}}-t^{-2}dt = \lim_{b\to\infty} -\int_1^{1/b} \frac{-\ln(t)}{t^2+1}dt.\]Nun sieht man schon die Magie, nicht wahr? Nicht nur, dass wir uns nun mit einem Integral über einem endlichen Intervall beschäftigen können; wir können sogar durch die Ersetzung von $1/b$ durch $a$ zu dem Integral übergehen, das wir schon kennen (denn wenn $b$ nach unendlich strebt, strebt $1/b$ nach $0+$, die Integrationsgrenzen drehen wir um und ob wir die Integrationsvariable nun mit $x$ oder $t$ bezeichnen, ist völlig ohne Belang). Kurz:
\[\int_1^\infty \frac{\ln(x)}{1+x^2}dx = -\int_0^1 \frac{\ln(x)}{1+x^2}dx.\]Dies sichert uns auf Anhieb die Existenz und weiterhin sofort den Wert des gesuchten Integrals, ohne den Wert der Teilintegrale zu kennen:
\[\int_0^\infty \frac{\ln(x)}{1+x^2}dx = \int_0^1 \frac{\ln(x)}{1+x^2}dx + \int_1^\infty \frac{\ln(x)}{1+x^2}dx = 0.\]
Das habe ich anfangs gemeint: Wenn sich nach langer Arbeit etwas kürzt, ist das einfach zauberhaft!

Sonntag, 3. April 2016

Wenn Tog wirklich wäre ...

Alle Jahre wieder trifft man auf der Leipziger Buchmesse auf die unterschiedlichsten Gestalten. Manche kommen in Verkleidung, andere machen hunderte Fotos und wieder andere tun harmlos, verteilen aber Nazi-Zeitungen. Man darf nicht jedem glauben, der einen anlächelt; ganz genauso ist es mit der

Religion

Untersuchungsgegenstand

Als ich das Messegelände gerade verlassen wollte, drückte mir ein überaus motivierter junger Mann ein Büchlein in die Hand, das auf den Titel "Wenn Gott wirklich wäre ..." hört. Geschrieben wurde es von Wolfgang Bühne und herausgegeben wurde es vom Verein "Christliche Literatur-Verbreitung" in nunmehr 4. Auflage. Offenbar habe ich durch dieses selbstlose Geschenk beinahe zwei Euro gespart, na hoi! Da kann ich mir natürlich auch die Mühe machen, etwas über dieses Geschenk zu schreiben.

Positives

Gleich vorneweg: Ich habe schon Schlimmeres gelesen, sowohl was den Inhalt als auch die Ausdrucksweise anbelangt. Genau genommen wusste der Autor mit beinahe tadelloser Rechtschreibung und mit vielen Beispielen aus dem täglichen Leben und von Berühmtheiten zu begeistern und mitzureißen. Die geäußerten Ansichten zur Bedeutung von Sünde, Liebe und dem Kreuz waren zudem in sich konsistent und lieferten mir eine neue Sicht auf diese Begriffe. Jemandem, der sich für ein paar launige Worte zur Religion interessiert, kann ich diese Lektüre durchaus empfehlen.

Rechtfertigung des folgenden Verrisses

Allerdings haben wir es hier nicht mit einer harmlosen Gute-Nacht-Lektüre zu tun, sondern mit dem Versuch, eine Weltanschauung zu rechtfertigen, die außerhalb des persönlichen Denkens keine Rechtfertigung besitzt. Irgendwo zwischen all den Aussagen, denen man guten Herzens zustimmen kann, muss es also eine handvoll Behauptungen geben, denen man – wo man doch gerade so schön dabei ist – leichtfertig zustimmt, die aber bei näherer Betrachtung in sich zusammenbrechen und dabei das gesamte, so schön konstruierte Gebäude mit sich reißen.