Freitag, 11. März 2016

Verallgemeinerte Ableitung

Wie erkennt man, ob eine gegebene Funktion f differenzierbar ist? 
  • Für simples f können wir direkt die Definition überprüfen, 
  • für komisch definiertes f bleibt uns nicht viel anderes übrig, 
  • und die meisten f führen wir auf einfachere Funktionen zurück.
Allerdings gibt es kein einfaches Kriterium für Differenzierbarkeit. Anders ist es bei der

Verallgemeinerten Ableitung

Wir betrachten der Einfachheit halber eine Abbildung

f\colon \mathbb R\to\mathbb R

und rekapitulieren die normale Ableitung. Nach ihrer Definition ist f genau dann in einem Punkt x differenzierbar, wenn der Grenzwert

f'(x) = \lim_{t\to 0} \frac{f(x+t) - f(x)}{t}
existiert. Wann dies aber so ist, ist nicht direkt ersichtlich. Man könnte auf die Idee kommen, die Differenz im Zähler mittels der Lipschitzbedingung

|f(x) - f(y)| \leq L\cdot |x-y|
abzuschätzen (wobei L eine positive Konstante ist, die nicht von den Punkten x und y abhängt). Oft ist dies eine gute Idee, doch hier führt dies nur zu

|f'(x)| \leq \lim_{t\to 0} \frac{|f(x+t) - f(x)|}{|t|} \leq \lim_{t\to 0}\frac{L\cdot |x+t-x|}{|t|} = L.
Wir können also den Betrag der Ableitung nach oben abschätzen, müssen dabei jedoch voraussetzen, dass die Ableitung existiert. Wenn allerdings etwas nach oben beschränkt ist, blickt man fast schon automatisch auf das Supremum, denn dieses existiert ohne weitere Einschränkung. Es hindert uns also nichts daran, die verallgemeinerte Ableitung

f^\circ(x) = \limsup_{t\to 0} \frac{f(x+t) - f(x)}{t}




zu definieren. Der hier verwendete Limes superior wird oft nur für Folgen betrachtet. Hier wenden wir ihn auf Funktionen an und meinen damit ausgeschrieben

f^\circ(x) = \lim_{t\to 0} \sup_{0 < |s| \leq |t|} \frac{f(x+s) - f(x)}{s}.

Aus der Lipschitzbedingung folgt wie eben für jedes t die Abschätzung

\left|\sup_{0 < |s| \leq |t|} \frac{f(x+s) - f(x)}{s}\right| \leq L

und da das Supremum monoton fallend in |t| ist, existiert auch der Grenzwert. Dieser ist, um dies genauer auszuführen, nichts anderes als

f^\circ(x) = \inf_{t\neq 0}\sup_{0 < |s| \leq |t|}\frac{f(x+s) - f(x)}{s},
wie man sich schnell überlegt. Damit haben wir unser Ziel erreicht: Die verallgemeinerte Ableitung existiert, wenn f der Lipschitzbedingung genügt.

Wir können noch etwas allgemeiner an die Sache herangehen, wie wir gleich sehen werden.

Wie man am einfachen Beispiel der Betragsfunktion b(x) = |x| erkennt, reicht die Lipschitzbedingung (die in diesem Fall mit L = 1 gilt) nicht aus, um die Differenzierbarkeit zu sichern.

Es ist allerdings bekannt, dass Lipschitz-Funktionen nicht weit von Differenzierbarkeit entfernt sind. Ein Satz von Lebesgue, in einer allgemeineren Version als Theorem von Rademacher bekannt, sagt uns, dass solche Funktionen fast überall differenzierbar sind. Der Beweis hierzu würde den Umfang dieses Artikel bei Weitem sprengen, man findet ihn (und viele andere interessante Fakten über Lipschitz-Funktionen) in dieser Abhandlung.

Am Beispiel der Betragsfunktion können wir diese Aussage schnell verifizieren: Außer im Punkt x = 0 ist diese differenzierbar, denn es gilt

b'(x) = \lim_{t\to 0} \frac{|x+t| - |x|}{t} = \lim_{t\to 0} s(x) \frac{x+t-x}{t} = s(x),
wobei s(x) die Sigma-Funktion von x sei, also s(x) = 1 für positives x und s(x) = -1 für negatives. Die Ableitung ist also 1 oder -1, woran wir auch sehen, dass ihr Betrag wirklich nicht größer als die Lipschitzkonstante L = 1 ist.

Nun fällt auf, dass die Betragsfunktion über einseitige Ableitungen im Punkt x = 0 verfügt, dass also die beiden Grenzwerte

\lim_{t\to 0\pm} \frac{|0+t|-|0|}{t}
existieren. (Dies ist für alle konvexen Funktionen so, einen Beweis und anderes Interessantes zu konvexen Funktionen findet man in diesem Anhang, aber dies führt nicht in die Richtung, in die wir gehen wollen.)

Dies führt zu einer Idee für die in vielen Dingen praktische (einseitige) Richtungsableitung. Allgemein ist in einem Punkt x in Richtung v (einseitig) differenzierbar, wenn der Grenzwert

f'(x,v) = \lim_{t\to 0+} \frac{f(x+t\cdot v)-f(x)}{t}
existiert. Für v = 1 erhalten wir die normale rechtsseitige Ableitung, für v = -1 ALLERDINGS NICHT die normale linksseitige Ableitung, sondern ihr additives Inverses. Die linksseitige Ableitung der Betragsfunktion im Punkt 0 ist -1, die Ableitung in Richtung v = -1 ist im Gegensatz dazu b'(0,-1) = 1. Diese beiden Konzepte sollten nicht unbedacht über einen Haufen geschmissen werden, wie ich es irrtümlich in der ersten Version dieses Artikels getan habe. (Tut mir leid ._.)

Der Vorzeichenwechsel kümmert uns dennoch nicht sehr, und zudem haben wir eine andere interessante Identität, nämlich

b'(0,v) = b(v).
Bei dieser Definition bleibt dennoch das Problem, dass wir die Existenz des Grenzwertes nicht durch eine einfache Überlegung sicherstellen können. Jetzt endlich schlägt die Stunde der verallgemeinerten Richtungsableitung. Diese definieren wir, noch ein weniger allgemeiner, über

f^\circ(x,v) = \limsup_{y\to x,t\to 0+}\frac{f(y+t\cdot v)-f(y)}{t}.
Wie oben ist der Limes superior eine kurze Schreibweise für

f^\circ(x,v) = \inf_{y\in\mathbb R, ~t>0}\sup_{|z-x| \leq |y-x|,~0 < s < t}\frac{f(z+s\cdot v)-f(z)}{t}
und diese Ableitung existiert, wenn f der Lipschitzbedingung in der Nähe von x genügt. (Wer sich für die allgemeine Theorie des Limes superior interessiert, kann auch Bücher wie etwa dieses hier zurate ziehen. Ich würde bei den Preisen allerdings empfehlen, eine gute Bibliothek aufzusuchen.) 

Damit haben wir einen sehr allgemeinen Ableitungsbegriff eingeführt, der zu voller Stärke aufläuft, wenn man ihn nutzt, um einen verallgemeinerten Gradienten aufzustellen. Interessierte können nach dem Clarke'schen Subdifferential Ausschau halten, zum Beispiel in diesem Buch.

Wir aber enden an dieser Stelle und freuen uns über all die schöne Allgemeinheit, die wir eben gesehen haben.

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